„Was ein Mensch in seiner Kindheit aus der Luft der Zeit in sein Blut genommen, bleibt unausscheidbar.“ (Stefan Zweig, Die Welt von gestern)
♦ Schule
1959 bis 1978
Ich wurde am 16.4.1959 in Wilhelmshaven geboren, fast auf den Tag genau 15 Jahre nach der Kapitulation Nazi-Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg. Mir ist erst spät(er) klar geworden, was diese zeitliche Nähe für meine persönliche Entwicklung und mein philosophisches Denken bedeutete. Als ich mich zu Beginn meines Studiums mit der Kritischen Theorie beschäftigte, erkannte ich – nachträglich –, dass ich in einem Deutschland groß geworden war, das immer noch von autoritären und menschenverachtenden Tendenzen geprägt war.
Nach der Grundschule besuchte ich bis 1978 in Flensburg das Fördegymnasium. Die Schule war wichtig für mich. Hier wurde ich nicht angeschrien und geschlagen, wie es in meinem Elternhaus üblich war, sondern respektiert und gefördert. Das machte mir Mut. Erst gegen Ende der Schulzeit begriff ich, dass ich diesen Respekt und diese Förderung meiner schnellen Auffassungsgabe und Wissbegierde zu verdanken hatte, kurz, dem Umstand, dass ich ein „guter Schüler“ war. Diejenigen, die das nicht waren, wurden wenig(er) respektiert und kaum gefördert – der übliche, aber zum Glück nicht überall verbreitete Reflex Menschen gegenüber in einer auf Leistung und Effizienz gepolten Gesellschaft.
1976 bis 1978
Ich war zwei Jahre lang in der Jugendarbeit in einer Gemeinde der evangelischen Kirche in Flensburg tätig. Im Grunde gab es vor meinem Studium neben der Schule für mich nur in diesem Kontakt – konkret: zu einem äußerst progressiven und aufgeschlossenen Pastor sowie zu den Mitgliedern der von diesem Pastor geleiteten Jugendgruppe, die alle meine Freunde wurden – so etwas wie „Aufgehobensein“. Hier lernte ich, dass es im Leben mehr gibt, als den – wie auch immer verinnerlichten – Imperativen einer instrumentellen Vernunft zu folgen. Hier wurde ich mit meinen ersten philosophischen Kopfgeburten ernst genommen und nicht belächelt oder gar ausgelacht, wie das in meiner Familie der Fall war. Der Pastor besaß eine umfangreiche Bibliothek, in der ich mich oft stundenlang aufhielt und las. Hier habe ich das erste Mal erfahren, was Glück sein könnte. Denn Kindheits- oder Familienglück kannte ich nicht.
♦ Studium
1978 bis 1981
Ich studierte Philosophie, Germanistik und Geschichte in Freiburg/Br. Diese drei Jahre waren, was meine philosophische Sozialisation anbelangt, entscheidend für mich. Ich hörte Vorlesungen über Kierkegaard, besuchte Seminare zu Descartes, Kant, Hegel und Heidegger und wurde über einen Freund, zu dem ich später den Kontakt verlor, mit Horkheimer und v.a. Adorno vertraut. An und mit Kierkegaard schulte ich meinen Sinn fürs Individuelle, an und mit Adorno den fürs Allgemeine. Die Dialektik zwischen dem Einzelnen und dem Allgemeinen, zwischen Existenzphilosophie und Gesellschaftstheorie ist seitdem eines der beherrschenden Themen meiner philosophischen Arbeit(en) geworden.
1981 bis 1992
Ich setzte mein Studium in Berlin von 1981 bis 1992 fort. In diesen Jahren war der Philosoph Michael Theunissen für mich der bedeutendste akademische Lehrer – neben Ernst Tugendhat, den ich aber erst gegen Ende meines Studiums kennen und schätzen lernte. Bei Theunissen erfuhr ich den Respekt vor dem einzelnen Wort, der sprachlichen Formulierung, dem geschriebenen Text – in der Praxis der Satz-für-Satz-Interpretation, die auch heute noch meine Lektürearbeit prägt. In der Auseinandersetzung mit den Texten Tugendhats wiederum wurde mir die Bedeutung des „linguistic turn“ (von dem Tugendhat selber nie gesprochen hätte) bewusst. Beide Lehrer hatten auf mich aber v.a. aufgrund ihrer philosophischen Authentizität Bedeutung. Ich habe nicht nur ihre Bücher gelesen, ich bin bei ihnen „in die intellektuelle Lehre gegangen“.
Während meines Doktoranden-Stipendiums war ich von 1985 bis 1987 an der Freien Universität Berlin in der Germanistik als wissenschaftlicher Assistent mit Unterrichtsaufgaben betraut. Die Betreuung der Studierenden machte mir Spaß, aber die Stelle hatte ich nicht erhalten, weil ich mich besonders hervorgetan hätte, jedenfalls nicht mehr als andere Mitbewerber, sondern durch gewisse institutionspolitische Winkelzüge des mir damals wohl gesonnenen Professors („Das eine Jahr setze ich meinen Kandidaten durch, das andere Jahr ein anderer Kollege usw. usf.“) Das war ein Schock für mich – und, wie ich im Nachhinein sagen muss, nicht nur ein heilsamer. Ich bin damals in einen Ambivalenzkonflikt geraten, der bis heute seine Spuren in meinem Denken, meinen Texten und meinem Handeln hinterlassen hat.
♦ Vortragstätigkeit
1994 bis heute
1994 gründete ich mit befreundeten Philosophen, Medizinern, Psychiatern und Psychoanalytikern die ‚Gesellschaft für Philosophie und Wissenschaften der Psyche e. V. (Berlin)‘. Durch sie habe ich lange Jahre den Kontakt zum akademischen Diskurs aufrechterhalten können, weil sich die wissenschaftliche Arbeit des Vereins durch erheblich größere Freiheiten auszeichnete, als sie an irgendeiner Universität möglich wären. Sie folgte so gut wie keinem ökonomischen Zwang (etwa dem der Existenzerhaltung oder dem der Eintreibung von Forschungsgeldern), unterlag nicht dem heute überall verbreiteten Effizienzdenken (etwa in der Bildung von Exzellenzclustern) und zeichnete sich auch nicht durch den üblichen Konkurrenzdruck aus. Die Projekte, die wir realisierten, waren im höchsten Maße selbstbestimmt.
An fast allen Kongressen und Seminaren der GPWP sowie an deren Publikationen hatte und habe ich bis heute maßgeblichen Anteil. Am wichtigsten waren für mich in der Zeit von 2000 bis ca. 2008 mehrjährige, oft mit Freunden (Christoph Kurth und Bernd Heiter) gemeinsam veranstaltete freie Seminare an der Charité Berlin mit Workshops und Kolloquien zu einer Vielzahl sozialphilosophischer und sozialethischer Themen, unter anderem zu Edmund Husserls Phänomenologie, Emmanuel Levinas‘ Ethik des Anderen, Judith Butlers Subjektivationstheorie oder Julia Kristevas Psychoanalyseverständnis. Zu den meisten dieser Autoren und ihren Themen habe ich mich auch in meinen Publikationen geäußert.
Bis heute übe ich Vortragstätigkeiten im Bereich der philosophischen, psychiatrischen und psychopathologischen Lehre und Forschung aus. Aufgrund meiner Aktivitäten in der GPWP sowie meiner Veröffentlichungen habe ich eine Zeitlang an Hochschulen, auf Kongressen und in psychiatrischen Klinken, national wie international, Vorträge gehalten. Einige dieser Vorträge sind im Internet abrufbar, viele habe ich in Sammelbänden veröffentlicht. In den letzten Jahren hat die Zahl dieser Vorträge abgenommen, weil ich den Schwerpunkt meiner Tätigkeit vom Vortragen auf das Unterrichten verlagert habe. Gelegentlich äußere ich mich aber noch, wenn es gewünscht wird, zu den Schwerpunktthemen meiner bisherigen Publikationstätigkeit (Zeittheorie, Freiheitstheorie, Dialektiktheorie) sowie zu aktuellen Themen.
2000 bis 2001
Für eine kurze Zeit (ca. ein Jahr) war ich als Autor, Textreferent und Mediengestalter für die Ausländerbeauftragte des Senats von Berlin, damals Barbara John, tätig. Das war insofern eine wichtige Erfahrung für mich, als ich nie zuvor in einer Behörde gearbeitet hatte, noch dazu mit einer derart tatkräftigen Politikerin, wie Barbara John es war. Hier habe ich erfahren, wie vielschichtig und zugleich kleinschrittig politische Arbeit sein kann und dass es – wenn man sich auf den durch etablierte politische Parteien gesetzten engen Rahmen überhaupt einlassen möchte – nicht so sehr darauf ankommt, welcher politischen Partei jemand angehört (vorausgesetzt, er / sie hat ein demokratisches Grundverständnis), sondern mit welchem Engagement und welcher Durchsetzungskraft er / sie sich politisch betätigt. In dieser Hinsicht halte ich Barbara John auch heute noch für eine vorbildliche Politikerin.
♦ Dozententätigkeit
2004 bis 2006
Ich begann mit meiner Tätigkeit als Ethikdozent (die ich bis heute ausübe) zunächst für die TAW, die „Technische Akademie Wuppertal“, die knapp fünfzehn Jahre nach der Wende nördlich von Berlin, in Lübben, eine kleine Berufsschule gegründet hatte. Ihre Leiterin, mit der ich heute noch gelegentlich zusammenarbeite, war eine versierte und unvoreingenommene Pädagogin, die vor allem eines nicht scheute: Risiken – was man auch daran erkannte, dass sie bereit war, mich, einen theoretischen Luftikus, den sie vorher noch nie gesehen hatte, auf ihre Schülerinnen und Schüler loszulassen. Sie hat es, glaube ich, nicht bereut. In diesen zwei Jahren erfuhr ich, wie wichtig die Ethik für ein gesellschaftskritisches und gesellschaftskorrektives Denken und Handeln sein kann. In diese Zeit fielen auch meine ersten Lektüren von Texten Emmanuel Levinas‘, zu dem ich 2005 einen Sammelband veröffentlicht habe.
2006 bis 2010
Vier Jahre arbeitete ich anschließend (die Schule in Lübben musste aufgrund politisch widriger Umstände geschlossen werden) als Ethik- und Psychiatriedozent für die Campus Health Service AG sowie für Campus Berufsbildung e.V., beide in Berlin ansässige Berufsschulen. Hier konnte ich meine langjährige Beschäftigung mit psychischen Störungen und psychischen Erkrankungen sinnvoll umsetzen, musste aber auch erfahren, wie stark nach wie vor das professionelle Gefälle in der Kenntnis und im Umgang mit solchen Störungen und Erkrankungen ist. Die Bedeutung psychischen Krankseins für unser Verständnis menschlicher Endlichkeit wird weitgehend unterschätzt
2009 bis heute
2009 begann ich, zunächst als Honorar-, dann, ab 2011, als fest angestellter Ethik- und Psychologiedozent, für die Lazarus-Schulen in Berlin zu arbeiten. Der Unterricht dort ist geprägt durch Respekt und Aufgeschlossenheit auch solchen Studierenden, Schülerinnen und Schülern gegenüber, die mit dem Leistungs-und Effizienzdruck in unserer Gesellschaft nicht mithalten können oder auch nicht immer mithalten wollen. Für mich hat sich dadurch ein Kreis geschlossen. War im ersten Drittel meines Lebens die zentrale Erfahrung die des Aufgehoben- und Ernstgenommenseins in einer Gemeinschaft von Lernenden (die wir alle sind), so kann ich diese Erfahrung als Lehrender heute ein Stückweit an die Gemeinschaft zurückgeben.
(to be continued / kann fortgesetzt werden)